Hier stehe ich mit dem deutschsprachigen »Blankow«. Es war knapp, eigentlich hatte ich die Hoffnung auf eine Übersetzung längst fahren lassen. Obwohl ich, als ich mich im Jahre 2003 zum ersten Mal alleine mit dem Hund nach Blankow zurückzog, eines schon wusste: Ein eventuelles Buch würde für mich erst gelungen sein, wenn die Geschichten auf Deutsch in diese Gegend zurückkehren würden. Blankow gilt für mich als Symbol für alle ähnlichen Orte, deren Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Auch hier haben Menschen gelebt, Hunderte von Menschen wie Sie und ich, mit ihrer Hoffnung, ihrem Kummer und ihrer Freude, auch hier hat sich eine Metapher der deutschen Geschichte entfaltet, man muss sich nur langsam annähern, hinschauen, horchen, stille sein.
Mitte Juni 2006, als »Blankow« in den Niederlanden herauskam, fiel es schnurstracks ins Sommerloch. Anderthalb Jahre später wurde es durch die Nominierung für einen Non-Fiction-Preis aus dem Tod auferweckt. Eines Abends im September 2008 klingelte das Telefon. Cees Nooteboom. Er sagte: »Ich habe Ihr Buch gelesen, es muss in Deutschland erscheinen, die Deutschen sollten es lesen, ich bin dabei, einen deutschen Verlag dafür zu interessieren.«
Und tatsächlich. Im Herbst 2009 fängt »Blankows« zweites Leben an. Ich sitze unter einem alten Dach in einem alten Wald in Niedersachsen und lese, beleuchtet von einer Schreibtischlampe, auf Deutsch vor. Ich bin gespannt: Werden die Deutschen es akzeptieren, dass ich mich als Ausländerin so in ihre Geschichte eingegraben habe? Eine Unbekannte vom »lockeren Nachbarvölkchen«, die sich ahnungslos den deutschen Traumata annähert und sie dreist aus ihrer eigenen Sicht beleuchtet? Ich konnte nur abwarten, das Buch war zu Hause angelangt.
Unter dem Dach in dem niedersächsischen Wald ist es mäuschenstill, eine Stunde lang, die frischen deutschen Wörter klingen tief in meinem eigenen Kopf, ich spüre eine Intensität, die der des Schreibens dieser Passagen ganz nahe kommt. Die Leute frieren, die Stille ist mit Händen greifbar.
|Nachher stehen wir draußen zwischen den Bäumen mit Rotwein und Brezeln, es dämmert, es formt sich ein Kreis. Es entsteht ein Gespräch, ernsthaft, offen. In der Mitte des Kreises wabern die Familiengeschichten aller, jeder trägt im Alltag seine eigene mit sich herum, in allen Fasern, meist schweigend, Leid und Schuld sind nicht messbar, jede Narbe ist anders.
Viele graue Haare dort auf der Lichtung, also viele Menschen mit ›Reminiszenzhöcker‹, wie der niederländische Psychologie-Professor Douwe Draaisma das Phänomen nennt, dass mit etwa siebzig Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend hochkommen, die man glaubte vergessen zu haben.
Auch im Kreis die dritte Generation. Eine Medizinstudentin: »Ich habe mich nie getraut, meine Oma zu fragen, was sie damals als junge Frau erlebt hat. Und jetzt ist sie tot.« Sie wirft sich einen Mangel an Mut vor. Jetzt hat sie Nachholbedarf, Lesehunger.
Mit »Blankow« reise ich weiter durch Deutschland. Die Ernsthaftigkeit und Offenheit der Leute berührt mich, die Bereitschaft mit mir mitzugehen, die Unbefangenheit der Außenstehenden, die nicht selbst an der Last der deutschen Geschichte zu tragen hat, anzunehmen, ins Schwarze zu blicken. Ich bin dankbar, dass das Buch eine solche Wirkung auslöst.
Langsam fiel mir aber auch etwas anderes auf. Es war, als ob »Blankow« im Osten nicht erschienen sei. Nur einmal hatte ich in der ehemaligen DDR gelesen – ganz am Anfang, im Koeppenhaus in Greifswald – und die regionalen Zeitungen und der Rundfunk schwiegen. War es dann doch nicht ganz zu Hause angelangt? Haben die zwanzig Jahre nach der Wende die Menschen in der ehemaligen DDR ermattet, desillusioniert? Ist das Schweigen hier allgegenwärtiger, tiefer? Hat es als Selbstschutz endgültig gewonnen? Vielleicht. Aber so habe ich die ehemaligen Bewohner von Blankow überhaupt nicht empfunden. Sie haben eher fieberhaft erzählt. Stundenlang.
Eines Tages stehe ich in Blankow wieder beim Bäckerwagen und rede mit den Frauen aus dem Weiler. Frau Neumann und ihre Tochter haben mein Buch natürlich zuerst als Schlüsselroman gelesen. Und dann nochmal. Was gleich nach dem Krieg mit den Frauen passiert ist, sagt die Tochter, »wir haben nie darüber geredet. Jetzt reden wir ständig darüber. Omi, erzähl mal, wie war es …« Und Omi sucht in ihrem Gedächtnis nach dem elfjährigen Mädchen, das sie 1945 war, und nach dem, was sie erlebt und erfahren hat. »Blankow« hat ihr Gedächtnis belebt. Es handelt von ihrer Lebenswelt.
Als ich hörte, dass »Blankow« mit dem Annalise-Wagner-Preis ausgezeichnet werden soll, wusste ich, dass ihm ein drittes Leben vergönnt war und dass es erst jetzt richtig da ankommen würde, wo es herkam und hingehört. Wie wichtig mir das ist, möchte ich kurz skizzieren anhand des heutigen Denkens über das Gedächtnis. In den Kulturwissenschaften gilt das Gedächtnis mittlerweile als ein menschliches Phänomen, das alles durchdringt. Und das Faszinierende ist: Was es genau ist, wird uns immer wieder entgleiten; oder, wie die englische Schriftstellerin Virginia Woolf schon sagte: »Memory is inexplicable.« Wir alle, jeder für sich, wir erinnern uns, ob wir es wollen, ob wir es wissen oder nicht, wir alle bestehen nicht nur hauptsächlich aus Wasser, sondern ebenfalls hauptsächlich aus Gedächtnis. Und auch unsere Umwelt, unsere Gesellschaften sind sowohl Niederschlag von Erinnertem als Reiz zum Erinnern.
Das gesamtdeutsche Gedächtnis hat, wie die Nation, rasch den Charakter einer Einverleibung der DDR in die ehemalige BRD bekommen; es wird von der westdeutschen Nachkriegszeit geprägt. Dazu kommt noch, dass das kollektive Gedächtnis in der DDR das von der SED angeordnete Gedächtnis war. So ein Gedächtnis versteinert, weil alles andere ausgesperrt wird. Das Ausgesperrte versucht in privaten Kreisen mehr oder weniger heimlich zu überleben und ist deswegen kaum belegt. Ich weiß, es gibt die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, und an Universitäten sind Nischen, die sich mit der DDR beschäftigen. Aber der Blickwinkel steht fest. Die DDR wird rasch zu einer bloßen Fußnote der deutschen Geschichte werden. Und so wird das gesamtdeutsche Kollektivgedächtnis zum Zerrbild werden, so bleibt das Gedächtnis der ehemaligen DDR-Bürger ausgegrenzt.
Es ist nicht leicht, den Kurs des Gedächtnistankers zu korrigieren. Es erfordert viele kleine Schritte, die oft noch keiner gewagt hat. Zum Beispiel: in Broschüren und auf Websites der meisten Städte und Regionen im Osten wird die Zeitgeschichte noch immer ziemlich lückenhaft dargestellt. Dort spürt man, mit welchen Perioden diese Gegenden noch immer zu kämpfen haben. So wird der Zeitabschnitt von 1939 bis 1945 meist übersprungen, und auch die Nachkriegszeit bleibt unterbelichtet. Die DDR-Sicht der Vorwendezeit ist überholt, und die westdeutsche will man – sehr berechtigt – auch nicht einfach übernehmen. Aber damit das Kollektivgedächtnis der Zeitgeschichte und den Menschen mehr gerecht wird, kommt man nicht umhin, die schwierige Erinnerungsarbeit selbst zu leisten.
Es sind vor allem die vielen kleinen und großen Initiativen von Bürgern und ihren Organisationen, die ein Gegengewicht bilden können. Sie haben wie immer sowohl eine Vorreiterrolle als auch die Aufgabe, nicht aufzugeben – so wie Annalise Wagner das vorgelebt hat. Sie hat ihr Leben dem Gedächtnis ihrer Heimat gewidmet, sie hat die Erinnerungsarbeit leidenschaftlich betrieben, und das in einer Zeit, in der es, gelinde gesagt, noch weniger einfach war. Rollenmodelle wie Annalise Wagner sind für die heutige Aufgabe von größter Bedeutung.
Deswegen ist es mir eine große Ehre, dass »Blankow« gerade mit dem Annalise-Wagner-Preis ausgezeichnet wird. Für mich bedeutet es, dass meine, ziemlich experimentelle, Form der Erinnerungsarbeit und auch der Blick von außen in Mecklenburg-Strelitz, in der ehemaligen DDR, in Deutschland gewürdigt wird. Ich betrachte es als Anerkenntnis der Tatsache, dass die Vergangenheit uns Menschen immer noch bestimmt und deswegen immer wieder neu erinnert werden muss in möglichst großer Vielfalt, damit sie nicht als vollendete Historie oder sogar als mediale Zerstreuung verharmlost wird und individuelle Schicksale beiseite schiebt. Ich betrachte es auch als Anerkenntnis der Tatsache, dass das Gedächtnis kein Archiv, keine Festplatte ist, sondern ein lebendiges Organ, das unsere freizügige Obhut braucht, damit wir selbst als Menschen und Gesellschaft, auch europäisch und weltweit, nicht verkümmern.
Zum Schluss möchte ich noch den Menschen danken, ohne die dieses Buch nie in Deutschland erschienen wäre. Danke an Rainer Weiss und Anya Schutzbach, die beiden Gründer von Weissbooks; sie verdienen alle Aufmerksamkeit und Achtung, dass sie als kleiner Verlag den Mut hatten, »Blankow« herauszugeben – und auch noch so schön! Ihr Glaube an das Buch, ihre Begeisterung und ihre Energie haben mich beflügelt.
Danke an Waltraud Hüsmert, die gefeierte Übersetzerin von »Blankow«. Die Arbeit, die sie geleistet hat, ist entscheidend gewesen für den Erfolg des Buches. Nichts an dem deutschen Text ist mir fremd, sie hat ein überragend tiefes Verständnis für meine Sprache und für die Art und Weise, in der ich im Leben stehe. Das Lob für »Blankow« gilt gleichzeitig auch ihrer Sprachgewalt und Hingabe.
Dann möchte ich den Menschen danken, ohne die das Buch überhaupt nicht zustande gekommen wäre: den ehemaligen Bewohnern von »Blankow«, Bewohnern von Dornhain, einer Nachfahrin des Gutbesitzers Vonnauer und allen, mit denen ich gesprochen habe und die mir ihre Erinnerungen und ihr Vertrauen geschenkt haben.
Mein Dank gilt auch meinen Freunden auf dem Vorwerk, Silvia Albu-Stanescu, Ulrike Nauhaus und Ulrich Wüst, mit denen ich schon seit 1986 befreundet bin. Sie haben meine Bleibe in und meine Recherchen über Blankow über Jahre mit großer Anteilnahme verfolgt. Erst sieben Jahre nach dem Anfang meines Projekts haben sie lesen können, wie ich ihr Blankow in Literatur verwandelt habe. Ihre Gelassenheit war ein Zeichen der Freundschaft, wofür ich sie bewundere und ihnen von ganzem Herzen danke. Schließlich möchte ich Tijs van den Boomen, meinem Mann, danken. Er wusste als einziger, was ich suchte, er war immer davon überzeugt, dass daraus etwas hervorgehen würde, und er hat mir die Einsamkeit, die ich dazu brauchte, gegönnt.