Über Wir töten Stella
– eine Novelle von Marlen Haushofer (1920-1970)
Eine Familie: Mann, Frau, fünfzehnjähriger Sohn und achtjährige Tochter, aus der gebildeten, gehobenen Mittelschicht. Sie arbeitet zu Hause und ist ihrer Familie zugewandt. Eines Tages wird das von ihr sorgfältig gepflegte Gewebe des Familienlebens durcheinander gebracht, weil die Tochter einer alten Freundin ein Schuljahr bei ihnen einzieht.
Stella ist neunzehn Jahre alt, ein Kind noch, obwohl ihre weibliche Schönheit und Sehnsucht unter die Oberfläche schon spürbar sind. Die Novelle fängt mit dem Ereignis an, das durch den Titel schon aufgedeckt wird: Stella ist tot. Und sogar noch stärker: »wir« die Ich-Person, Anna, und diejenige, mit den sie ein »wir« bildet haben sie getötet. Anna ist zwei Tage alleine zu Hause und erfüllt ihr Bedürfnis alles aufzuschreiben, Klarheit im Kopf zu bekommen über was geschehen ist.
Stella ist einfach vom Gehsteig getreten und von einem LKW überfahren worden. Es war ein Unfall, sagt die öffentliche Fassung, es war Selbstmord, wissen Anna und ihr Sohn Wolfgang jeder für sich. Richard, ihr Mann, will es einfach nicht wahrhaben.
Er hat Stella verführt, wie er immer Frauen verführt. Und auch diesmal hat Anna geschwiegen. Stella blühte auf und dann, schon ein paar Wochen später, war Richard von ihr gelangweilt und hat sie ohne Bedenken zurückgewiesen. Sie wurde krank vor Liebeskummer und er roch schon wieder nach einem fremden Parfüm, wie Anna mit einem Hauch von Schadenfreude bemerkte. Die todunglückliche Stella hat ihr zwar auch Leid getan, aber sie hat nicht gewusst, was sie mit ihr anfangen sollte. Und wieder hat sie Richard gegenüber geschwiegen. Auch wenn Stella tot war, schwieg Anna immer noch. Sie fühlte sich sogar einen Augenblick erleichtert, weil mit Stella auch die Unruhe aus ihrem Leben und ihrer Familie verschwinden würde.
Gnadenlos analysiert sie das Familiengewebe, das zu Stellas Tod geführt hat. Anna ist der charmante, lebenslustige Richard nicht gewachsen, er macht, was er will und immer wenn sie das nicht völlig hinnimmt, droht er, ihre Achillesferse zu treffen: ihren Augenstern Wolfgang, das empfindliche Kind, das ihr so ähnelt. Aber trotz allem ist Anna nicht nur Richards Opfer, weiß sie. Er schafft ihr auch was sie braucht: ein sicheres, wohlhabendes, ruhiges Leben. Und dafür bezahlt sie den Preis. Die Regeln sind unausgesprochen, aber sie sind für beide völlig klar. Und jetzt hat Anna ihre Schuld als Mittäter zu tragen, und sogar Wolfgang ist schon im Netz von Schweigen und Schuld gefangen. Nur die kleine Tochter, Annette, weiß von nichts.
Anna wird nicht von moralischer Schuld verfolgt. Es ist sogar noch schlimmer: sie ist der Überzeugung, dass jeder Mensch ein persönliches Gesetz in sich trägt und wenn er das übertritt, zerstört er sich selbst. Und gerade das hat sie jetzt gemacht, weil ihr Gesetz die Unantastbarkeit des Lebens war. Sie hat es zugelassen, dass Stella zu Grunde gerichtet wurde. Diese Zerstörung wird sie nie wieder loswerden. Vielleicht am greifbarsten spürt sie das an Wolfgang, der ihre Lebensfreude ist. Er hat sich nach dem Tod von Stella nicht nur mit Abscheu von seinem Vater abgewandt, er hat auch sie als eine feige Person entlarvt. Er hält es bei seinen Eltern nicht mehr aus und will ausziehen. Die ungeheuer starke Beziehung zwischen Anna und Wolfgang ist schwer beschädigt, fortan wird Stella immer zwischen ihnen stehen. Annas goldener Käfig hat sich in einen Kerker verwandelt.