Der Blick von außen
Niederländische Originalfassung 1. Mai 1990
2013 publiziert in ‘Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsverein zu Prenzlau. Heft 20’
Was macht die Wende mit den Menschen – weit weg von Berlin und der Weltpolitik? In Fürstenwerder zum Beispiel, einem Dorf in der DDR mit 1032 Seelen, von denen manche Kaiser Wilhelm, die Weimarer Republik, die Nationalsozialisten und die Sozialisten überlebt haben? Und nun also: Demokratie à la Kohl. Bei den Kommunalwahlen im Mai wird der kommunistische Kopf von Bürgermeister Durdis rollen – einem „kleinen, arroganten Aufschneider“. Nicht, dass das etwas nützen würde. Ein Steine auflesender Bauer: „Marktfähig werden wir nie.“ Das Dorf steht mit leeren Händen da, es brodelt von Klatschgeschichten und Rachegedanken. „Diese Zeit der Wende erinnert stark an 1945. Jeder sagt: ‚Ich habe keine Schuld.’ Aber alle haben sie mitgejubelt und ihre roten Fähnchen geschwenkt.“ Pauline de Bok verbrachte Anfang 1990 einen Monat im „letzten Loch vor der Hölle“.
Der betagte Karl Schulz steht an seiner Gartenpforte in der Sonne. Der Frühling ist dieses Jahr zu früh gekommen. Fast beunruhigend. Er schaut über die Straße, die Hauptstraße des Dorfs, die Ernst-Thälmann-Straße, früher die Prenzlauer. Thälmann … ein Gedenkstein für ihn steht beim alten Bahnhof, einem Ziegelbau. Früher befand sich der Stein beim Sportplatz, mit dem Namen von Adolf Hitler. Jetzt steht er bereits seit vierzig Jahren zwischen den drei großen Eichen, die die Bürgerschaft gepflanzt hat, um die Geburt des Kronprinzen zu feiern. Das war lange vor dem Ersten Weltkrieg. Damals war Fürstenwerder noch ein blühendes, reiches Dorf von Handwerkern und Bauern, das Handelszentrum der Gegend. Das haben die Kommunisten alles kaputtgemacht. Irrsinnig ist das, ein Verbrechen. Eigentlich ein Wunder, dass diese verrückte kommunistische Wirtschaft überhaupt noch lief. Das hat er auch zu dieser Holländerin gesagt. Aber dass sie das nun alles aufschreiben musste … er hält sich lieber mehr im Hintergrund. Sein Sohn sagt immer: „Papa, halt dich aus allem raus, das ist am besten.“ Sein Junge ist Akademiker. Er selbst hat nur die Volksschule besucht. Mit vierzehn hat er sich schon die erste Kuh gekauft. Was hat sein Vater da für ein verdattertes Gesicht gemacht. Aber er durfte die Kuh sofort abholen. Sein Vater ist bereits seit einer Ewigkeit tot. Mit fünfzig an Leberkrebs gestorben. Sein letzter Rat auf dem Totenbett lautete: „Tue recht und scheue niemand.“ Daran hat er sich gehalten, seinem Herzen immer Luft gemacht. Einen Haudegen hat ihn der vorige Pfarrer manchmal genannt. Er hatte es nicht einfach im Leben. Die Armut nach dem Ersten Weltkrieg, barfuß gingen sie in die Schule. Als Adolf an die Macht kam, ging es mit der Wirtschaft wieder bergauf. Aber nur für kurze Zeit, denn ab 1937 musste alles der Kriegswirtschaft weichen. Der Fleischer und er mussten als erste in den Krieg, weil sie nicht in der NSDAP waren. Am 27. August 1939. Sechs Jahre im Krieg, Belgien, Frankreich, Russland. Schön war es nicht, aber man gewöhnt sich an alles. Man versteckte sich hinter einem Strohhalm und glaubte, man könnte nicht getroffen werden. In Stalingrad geriet er in Kriegsgefangenschaft. Die Zeit im Arbeitslager versucht er so gut es geht zu vergessen. Wie haben sie ihn verhätschelt, als er im September 1946 wieder nach Hause kam, zweiundvierzig Kilo, mit TBC und einem offenen Bein. Schon nach kurzer Zeit war er wieder auf der Höhe. Alle waren so froh, dass der Krieg vorbei war. Das Dorf platzte aus den Nähten, die ganzen Flüchtlinge. Keiner hatte etwas zu verlieren, alle waren arm. Es war eine glückliche Zeit, zwei Monate lang. Bis sie ihn am 4. November 1946 abholten, die Polizisten aus Prenzlau. Wieder saß er neun Monate in Haft, weil er für seine sechzig Morgen Land das Abgabesoll nicht erfüllt hatte. Aber wie denn auch? Seine Frau hatte doch gar keine Chance gehabt, die Felder zu bestellen, als er weg war. Nach seiner Freilassung kratzte er hundert Morgen zusammen – er hat sich immer zu helfen gewusst – und er betrieb auch bald wieder seine Gaststätte. 1953 war es damit vorbei, und wie: eine Baukolonne und die Polizei schlugen ihm die Fenster der Schenke ein. Ein volkseigener Lebensmittelladen und eine Apotheke bekamen die Räume zugewiesen.
Fürstenwerder liegt im Norden der DDR am Großen See und am Dammsee zwischen sanften Hügeln. Ein Dorf mit 1032 Einwohnern. Ein paar Fachwerkhäuser erinnern an früher, fünf graue Betonwohnklötze an den sozialistischen Aufbau. Am Ufer des Großen Sees liegen die Bungalowsiedlungen Steinfeld, Hügelland und Uferzone. Dicht beieinander stehende Ferienhäuschen, Einfriedungen aus gelblichem Wellplastik, bunte Glasbausteine, ein Gartenzwerg. Ein schwacher Nachhall von Urlaubsstimmung hängt noch in der Luft. Daneben, mit Maschendraht umzäunt, der Festgarten: Sitzgarnituren aus Metall, die Farbe abgeblättert, hier und da mit Schiefer-Imitat überdacht.
„Mit Fürstenwerder ging es ständig abwärts“, erzählt Gerd Zellmer, der von 1958 bis 1986 dort Pfarrer war. „Lange Zeit war es ein fast autarkes Städtchen, aber wie man sich erzählt, haben die Stadtväter das Stadtrecht Anfang des neunzehnten Jahrhunderts versoffen. Die Junker bekamen immer mehr Grund und Boden in ihren Besitz, und Landarbeiter schufteten für einen Hungerlohn. 1946 wurde Grundbesitz über hundert Hektar enteignet, die Junker setzten sich in den Westen ab. Das enteignete Land wurde in Parzellen von fünf bis zehn Hektar unter den Landarbeitern und den vielen Neusiedlern aus den Ostgebieten und aus Jugoslawien verteilt. Während des Aufstandes von 1953 flohen viele Menschen aus dem Land. Auch in Fürstenwerder blieben Gehöfte und Felder verlassen zurück. Die ersten, noch kleinen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) wurden gegründet. 1960 kam der Sozialistische Frühling – erzwungene Kollektivierung heißt das seit kurzem öffentlich –, um die armseligen LPGs aus der Sackgasse zu holen. Fürstenwerder erhielt am Dorfeingang ein Schild: „Vollgenossenschaftliches Dorf“. Im Schaukasten der LPG hing ein Foto vom besten Traktoristen des Jahres, durch Sonne und Regen war es bald verblasst und verschrumpelt. Die LPGisierung brach die Bauern. Das Vieh wurde abgeholt, und dann streifte ein Bauer über seinen leeren Hof, durch die leeren Ställe. Man sah, wie sie gleichgültig wurden, die Höfe wurden vernachlässigt. Man hat ihnen die Freude daran genommen, den eigenen Besitz in Schuss zu halten.“
Auch Karl Schulz musste sich fügen, verlor sein Land und sein Vieh. Was blieb ihm anderes übrig, als in der LPG zu arbeiten? Er wollte doch, dass sein Sohn studieren durfte. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften … sie haben die bäuerliche Landwirtschaft zerstört. Dilettanten sind es. Solange es LPGs gibt, leben die Menschen in den Tag hinein. Er blickt auf das Erdgeschoss seines grauen Hauses, wo sich noch immer eine Apotheke und ein Konsum befinden. Zehn Gaststätten hatten sie vor dem Krieg. Nur eine davon ist übrig geblieben. Im Dorf fühlten sie sich zusammengehörig, sie waren alle Fürstenwerderer. Sie gaben dem Ort Spitznamen, die klingen noch in seinem Kopf nach: „Fürstenwerder Dudeldei“, „Fürstenwerder, verträumtes Dornröschen“’, „Fürstenwerder, das letzte Loch vor der Hölle“. Mittags saßen bei ihm manchmal zwanzig Gäste. Bauern und Arbeiter ölten ihre Kehlen, bis sie betrunken hinaustorkelten. Seine Küche war hervorragend, er hat sein Vieh immer selbst geschlachtet. Die Uckermark, ach, viel ist nicht mehr davon übrig. Vor dem Krieg war neben seinem Hof eine Bahnlinie. In zweieinhalb Stunden war man in Berlin, der preußischen Stadt, auch seiner Stadt. Er ist ein echter Preuße. Adolf Hitler war ein Österreicher, der fühlte sich in Berlin nicht zu Hause. Er und die Preußen konnten nicht so gut miteinander. Viele Leute glauben, dass die Uckermark in Mecklenburg liegt. Stimmt aber nicht, die Grenze verläuft direkt oberhalb und westlich von Fürstenwerder. Mecklenburger sprechen auch anders, sie singen mehr, und sie pfeifen dabei. Er spricht Hochdeutsch. Er stammt von hier. Sein Ururgroßvater war Soldat im Siebenjährigen Krieg. Er wurde 1758 in Fürstenwerder verwundet und heiratete ein Mädchen aus dem Dorf. Vielleicht ist sie, seine Ururgroßmutter, ja eine Nachfahrin des blonden slawischen Stamms, der sich im dreizehnten Jahrhundert in der Uckermark ansiedelte. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Ein Uckermärker wird in Kinderbüchern mit O-Beinen und rotem Bart abgebildet. Ach, da läuft der kleine Klaus-Dieter, auf dem Weg ins Gemeindeamt. Bürgermeister, was für ein Hohn. Briefe schreiben an Modrow, dass die Kirche das Volk aufhetzt, dass der Staatssicherheitsdienst auf der Stelle wieder eingeführt werden muss, dass Neofaschismus droht. Im Namen der ganzen Gemeinde, nur die Sache war die, dass keiner davon wusste. Vor dem Krieg hätte man ihn mit einer Peitsche aus dem Dorf gejagt.
Klaus-Dieter Durdis ist sehr beschäftigt, er steckt bis zum Hals in Problemen. Mitte dreißig, Plateausohlen, eine laute, volle Stimme. Von dem Schwung, mit dem er mich noch vor wenigen Wochen begrüßte, ist nichts mehr übrig. Damals hieß es noch: „Ein bisschen Publicity für mich und meine Gemeinde kann nie schaden.“ Ein Mann von Welt, dem man nichts vormachen konnte. Und auf meine Frage, welchen Einfluss die Kirche im Dorf hatte, schnaubte er verächtlich und zeichnete auf das Millimeterpapier vor ihm einen Kreis: „Das ist meine Gemeinde, und das“ – er malte einen winzigen Kringel an den Rand –, „das ist die Gemeinde vom Pfarrer.“ Er zeichnete ein paar Männchen, „und der hat ja auch nur die Köpfe.“ Legte den Stift hin, zufrieden. Das ist ein für alle Mal klar. Aber er war nicht kindisch: „Wenn wir uns begegnen, grüßen wir uns, wenn’s sein muss, schlagen wir uns sogar gegenseitig auf die Schultern.“ Bei den Kommunalwahlen im Mai will er sich als Mitglied der PDS – der erneuerten SED – als Kandidat für das Amt des Bürgermeisters aufstellen lassen. KDD, Witwer und Hobby-Aquarianer.
Ein paar Wochen später. Die Wende ist auch in Fürstenwerder angekommen, und seitdem wird kräftig an Durdis’ Stuhl gesägt. Seit elf Jahren ist er Bürgermeister von Fürstenwerder. Er wird nicht mehr kandidieren. Er hat nicht die geringste Chance. Leider. Er war nun mal in der Partei, das kann er jetzt auch nicht mehr ändern. Er hat aufs falsche Pferd gesetzt. Diesmal steht er nur widerwillig Rede und Antwort. Von einem hektographierten Blatt liest er alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten im Dorf vor. Eine beeindruckende Liste. „Fürstenwerder hat eine ausgezeichnete Infrastruktur.“ Aber die Dorfbewohner klagen, vor dem Krieg sei es viel besser gewesen, und junge Leute und Frauen fänden keine Arbeit. Durdis brüstet sich mit dem Dutzend Läden.
Die junge Verkäuferin im Gemüse-, Obst- und Fischladen an der Berliner Straße seufzt. „Zwiebeln?“ Von hinten holt sie ein Netz mit fünfzig Kilo. „Sie sind furchtbar schlecht.“ Sorgfältig sucht sie die besten heraus. „Darf’s sonst noch was sein?“ Sie blickt bedrückt auf die Holzkisten mit verschrumpelten weißen und roten Kohlköpfen, einem kleinen Rest halb verfaulter, daumenlanger Wintermöhren, Netzen mit gelbbraunen Äpfeln. Kartoffeln hat sie nicht. Manchmal gibt es Fisch, frisch aus den Seen, oder geräuchert. Heute nicht. Sie kriegt alles aus Prenzlau geliefert, von der Konsum-Genossenschaft, denen ist völlig schnuppe, was sie liefern. Früher hieß es: Was vom Land kommt, soll auf dem Land bleiben. Aber die LPGs kümmern sich nicht um Selbstversorgung. Das meiste in ihrem Laden ist hoch subventioniert. Schwarzwurzeln kosten fünf Mark das Kilo, sie verkauft sie für die Hälfte. Wenn diese Subvention demnächst wegfällt … Sie macht ihre Arbeit gern, das ist es nicht, aber immer schlechte Waren verkaufen oder sagen zu müssen „nein, das haben wir nicht“, das macht sie völlig fertig. Die Leute nehmen es ihr persönlich ja übel. In Woldegk verkaufen sie schon Schlangengurken aus dem Westen, siebzehn Mark das Stück. Das traut sie sich nicht. Das erste Mal kaufen die Kunden sie vielleicht aus Neugier, aber sie sind viel zu teuer. Und dann verfaulen sie ihr.
Zufrieden lässt Pfarrer Jörg Hemmerling den Blick über den Betsaal der Kirchgemeinde schweifen, der gerammelt voll ist. Bestimmt hundert Leute. Das gab es noch nie. Seine Einladung war erfolgreich. Die monierten Passagen aus Durdis’ Briefen sind an die Wand projiziert. Da sitzt er, Klaus-Dieter, etwas versteckt an der Wand. Er hat zu diesem Anlass sogar einen Anzug angezogen, einen Schlips umgebunden und Pomade ins Haar gerieben. Dass er überhaupt erscheint, war nicht zu erwarten. Vor drei Jahren, als Hemmerling seinen Dienst als Pfarrer hier antrat, hatten sie hin und wieder Kontakt. Bis Durdis zu ihm sagte: „Bitte hier keine Perestroika und keine Glasnost, das ist das Schlimmste, was uns passieren kann.“ Seitdem hat er Durdis gemieden. Im November 1989 fing der dann auch auf einmal mit Demokratie an, mit einer Versammlung fürs ganze Dorf. Ein Witz war das, auf jede Frage antwortete er „ich weiß es nicht“ oder „dafür bin ich nicht zuständig“ oder „dafür bilden wir eine Kommission“. Im Januar 1990 berief er einen Runden Tisch ein, ohne sich vorher zu fragen, was ein Runder Tisch eigentlich ist. Die alten SED-Genossen saßen en bloc da. Was für ein Opportunist. Er hat versucht, in die SPD einzutreten, auch im Januar, zwei Tage, nachdem er aus der SED ausgestiegen war, er sagte, die Partei sei für ihn gestorben. Und als das nicht klappte, hat er es noch bei den Liberalen versucht.
Pfarrer Hemmerling bekam die beiden Briefe an Modrow durch Zufall zu Gesicht. Er möchte, dass das Dorf ein Urteil darüber fällt. Der Superintendent der Evangelischen Kirche aus Prenzlau leitet die Versammlung. Hemmerling fängt an und berichtet von den Briefen. Dann wird Durdis das Wort erteilt. Mit unsicherer Stimme liest er vom Papier ab. „Im Namen des Rats der Gemeinde danke ich dem Pfarrer dafür, dass er diese Versammlung organisiert hat. Es ist auch in unserem Interesse, dass der Sachverhalt geklärt wird. Der erste Brief kam im November zustande, in einer Zeit, als die Emotionen hochkochten. Überall gab es Demonstrationen, Versammlungen von Leuten aus allen möglichen Ecken, auch aus der Kirche. Wir bedauern es, die Rolle der Kirche falsch beurteilt zu haben und möchten uns dafür entschuldigen. Mit dem Brief wollten wir einen Beitrag zur Meinungsbildung leisten. Grenzpolizei und Volkspolizei waren nicht imstande, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Was uns vorschwebte, war nicht eine stalinistische Stasi, die die Bürger ausspioniert, sondern ein Sicherheitsdienst, der endlich was für sie tut. Beim ersten Runden Tisch im Dorf spürten wir Angst bei der Bevölkerung. Deshalb der zweite Brief. Wir glaubten, dass wir mit diesen Briefen im Sinn der Dorfbevölkerung handelten …“ Hohngelächter unterbricht seine Ausführungen. Widerwillig, in der Defensive, fährt er fort: „Täglich gibt es Drohungen, Bombenmeldungen, sogar gegen Kindergärten. Ich sah es als meine Pflicht an, Stellung zu nehmen gegen neofaschistische Tendenzen.“ Der Superintendent relativiert: „Das ist mal irgendwo anders im Land passiert. Hinter einem Bombenalarm stecken oft Kinder, vielleicht, weil sie Konflikte mit ihren Eltern haben. Das Wort haben jetzt die Menschen hier im Saal.“
Werner Toews steht auf: „Ich bin bestürzt, dass die Kirche zu Unrecht so beschuldigt wird. Sie war die Kraft, die dafür gesorgt hat, dass die Wende ohne Blutvergießen vor sich ging.“ Er verhaspelt sich. „Ich kann vielleicht nicht so gut reden, aber was ich sage, kommt von Herzen.“
Ein Frau: „Ich bin schockiert, sehr schockiert. Der Rat der Gemeinde benutzt noch die alten Methoden. Hier trifft ein altes Sprichwort zu: Der Fuchs ändert das Haar und bleibt, was er war.“
Der Saal weidet sich, alle Augen sind auf Durdis gerichtet. Aus zwei Metern Abstand sieht ihm der Dorfarzt direkt ins Gesicht: „Ich bin sehr betroffen, so ungeheuerliche Dinge zu hören.“ Seine Stimme zittert: „Ich entziehe Ihnen als Bürgermeister mein Vertrauen.“ Tosender Applaus.
Einer nach dem anderen macht seiner Empörung Luft. Durdis verliert die Fassung: „Das Misstrauen, das mir entgegenschlägt, bedeutet für mich das Ende meines Amts.“ Zum ersten Mal bekommt auch er Applaus. „Es war falsch, dass ein paar Leute die Briefe im Namen der ganzen Gemeinde geschrieben haben.“
„Namen, wir wollen Namen hören!“, schreit der Saal.
„Der stellvertretende Bürgermeister und ich und …“ Zögernd steht Frank Schmidt auf, ein junger Klempner, der seit November Mitglied des Rats der Gemeinde ist. „Nach dem Runden Tisch sagte Genosse Grahl zum Bürgermeister: ‚Wir müssen einen Brief schreiben, wir müssen unbedingt einen Brief schreiben.’ Durdis antwortete: ‚Gut, kommt morgen früh ins Gemeindeamt.’“ Als der Name Grahl fällt, das ist der Chef der LPG-Tierproduktion, wird es im Saal lebhaft: Jetzt lässt er die Katze aus dem Sack, der Grahl steckt dahinter. Natürlich. Der ist auch immer noch Parteimitglied.. Es heißt, er war bei der Stasi. Schweigend steht Grahl hinten im Saal, hochgewachsen, mit schwarzem Lenin-Spitzbart.
Eine Frau ruft entsetzt: „Den Brief haben also drei SED-Genossen über die Köpfe von 1032 Einwohnern hinweg geschrieben!“ Grahl muss sich nun äußern. Er entschuldigt sich, produziert einen Wortbrei mit sächsischem Akzent, redet und redet. Der Saal wird unruhig, ungeduldig, eine Frau ruft ärgerlich: „hätte, hätte, hätte …“ Der Superintendent bittet Grahl, sich kürzer zu fassen. Der Saal genießt es sichtlich. Grahl merkt, dass ihm noch längeres Reden mehr schadet als nützt und schließt mit den Worten: „Wir sind froh, dass es heute so positiv abgelaufen ist.“
Die Dörfler wittern Demokratie, zum ersten Mal. Sie möchten, dass der Rat der Gemeinde eine Bürgerversammlung organisiert, die befugt ist, Beschlüsse zu fassen. Lieber heute als morgen. Aufgekratzt verlassen alle im Nu den Saal. Schüchtern und verloren steht Durdis mit seiner Freundin bei der Tür und starrt auf seine Schuhspitzen.
Werner Toews blickt spöttisch durch seine dicken Brillengläser: „Wir haben ihm gestern seine eigene Scheiße unter die Nase gerieben, diesem kleinen, arroganten Aufschneider.“ In einer ehemaligen Speisesaalbaracke von Hitlers Arbeitsmaidenlager betreibt Toews mit seinem Bruder eine private Werkstatt. Hinter seiner Drehbank kommentiert er pausenlos die Politik. „Deutschland, einig Vaterland … unsere Huren laufen schon über den Ku’damm. Du kommst doch nicht etwa aus Amsterdam?“ Seine Augen leuchten beim Gedanken an dieses Sodom und Gomorrha. „Zu uns in die Werkstatt kommen immer viele Leute, auch SED-Genossen. Alle wollen unsere Meinung hören. Sie wissen, dass ich eine große Klappe habe, die hatte ich immer schon. Was mir durch den Kopf geht, kommt auch raus. Ich bin das schwarze Schaf im Dorf, wie der Rest von meiner Familie. Immer als Kapitalistenschwein beschimpft. Parteilos, katholisch, keine Jugendweihe. Als Parteilose haben wir immer da mitgemacht, wo es nicht so viele Genossen gab, wie bei der Freiwilligen Feuerwehr, oder im Anglerverband, da bin ich Vorsitzender. Manchmal zelten wir mit den Kindern vom Verband, dann erleben sie auch mal was anderes als die FDJ-Gehirnwäsche.“
Seine Eltern kommen aus Westpreußen. Sein Vater ist 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft entkommen und hat die Werkstatt in Fürstenwerder aufgemacht. „Vierzehn Leute haben hier gearbeitet. Braunhemden auch, die hatten sonst nirgends eine Chance. Mein Vater hat sie eingestellt.“ Ein alter Besucher nickt, mühsam, weil er unter Luftnot leidet, erzählt er: „Ich hab auch keine Arbeit gekriegt, ich war bei der Waffen-SS. Drei Jahre Kriegsgefangenschaft, dann bin ich zur Besinnung gekommen. Hitler hat uns unsere Jugend gestohlen.“
Werner zeigt auf ein Foto über seiner Drehbank. Kopulierende Hunde. „Ich wollte mal sehn, ob du rot wirst“, er lacht schallend. „Schon mit zehn Jahren habe ich in der Werkstatt mitgearbeitet, ich bin damit aufgewachsen. Mit zwölf habe ich schon geschweißt. Und jetzt wollen sie uns keinen Schweißerpass mehr geben. Typisch preußische Bürokratie. Wir waren immer schneller, besser, sie brauchten uns, aber wir durften uns nicht vergrößern. Wir durften auch nicht den Meister machen. Heute schon, aber sich mit dreiundvierzig noch in die Schulbank setzen, nur um einen Wisch zu kriegen … 1972 haben sie versucht, uns den Hals zu brechen mit ihren lächerlich hohen Steuern. Bis 1980 habe ich nur 430 Mark im Monat verdient, aber ich bin mein eigener Herr.“
Werner Toews ist ein Begriff. In der Gaststätte Zink sagt man über ihn: „Nicht immer richtig, laut, aber wichtig.“
Auf den Feldern sammeln die Bauern Steine auf. Immer wieder Steine. Sie arbeiten sich aus der uckermärkischen Erde nach oben. Sie stammen aus der Eiszeit, von Endmoränen. Zehn verschiedene Bodenarten auf einem Hektar, nicht besonders geeignet für Landwirtschaft im großen Stil. Man muss sich abrackern, damit der Boden Früchte trägt. „Nein“, sagen die Bauern, „marktfähig werden wir nie. Keiner aus dem Westen wird sich mit unserm Boden abgeben. Auch da haben sie keine Maschinen, um die Steine in unserer Erde zu zerbröckeln. Bauern aus der EU kriegen Geld, um gutes Land brach liegen zu lassen, also was haben wir hier für eine Chance. Mindestens die Hälfte der Landwirtschaft wird Pleite gehen, und was machen wir dann?“ Sie zeigen auf ihre Muskeln: das Einzige, was sie haben. Die Uckermark als Touristengegend, das ist die nahe Zukunft. „Aber wir können doch nicht alle Kellner werden? Die von drüben können es gar nicht mehr abwarten, Ferienanlagen und Hotels zu bauen. Sie werden wohl ihre eigenen Handwerker mitbringen, uns finden sie zu schlecht ausgebildet und ungehobelt.“ In den letzten Wochen fahren viele dicke West-Autos in der Gegend herum. Die Insassen schauen sich um, klopfen bei alten Gehöften an auf der Suche nach einem Sommerhaus. Wilhelm Schwerin von Schwanenfeld wurde auch schon gesichtet, Sohn von Graf Ulrich-Wilhelm, der 1944 wegen Beteiligung am Hitler-Attentat hingerichtet wurde und dessen Familie hier im Umkreis viele Güter besaß. „Demnächst werden wir noch von Haus und Hof vertrieben. Gesetzlich ist nicht viel geregelt, und Bonn hat die Landreform hier nie anerkannt. Die Junker wurden von der BRD großzügig entschädigt, das macht es noch bitterer. Wir haben immer so friedlich gelebt, jetzt stehen wir mit leeren Händen da. Unser Geld ist genauso viel wert wie das Polackengeld.“ Bittere Ironie: „Wir sind stein-reich.“
Auch ihr Chef Horst Büttner-Janner, Vorsitzender der LPG-Pflanzenproduktion, sieht düster in die Zukunft. „Die freie Marktwirtschaft ist das Einzige, was uns noch bleibt. Wir müssen wie die Verrückten weiterschuften. Niedrige Preise und bessere Qualität, rationalisieren. Weniger Leute, mehr Technik. Hier gibt’s keine Bauern mehr, nur noch Arbeiter. Zwei Bauerngenerationen wurden kaputtgemacht. Der Staat hat alles bis ins Detail vorgeschrieben und gelenkt. In unseren LPGs arbeiten 10,5 Arbeitskräfte pro hundert Hektar. Der Kapitalist arbeitet mit weniger als 3,5 AK. Diese Phase hätten wir vor zwanzig, dreißig Jahren auch schon haben können. Der Frust und die Angst sind groß. Ich war nie Kommunist, immer in der Bauernpartei, aber trotzdem: Wir kriegen jetzt den Kapitalismus, wie man ihn uns in der Schule erklärt hat, Kapitalismus in brutalster Form. Von sozialer Gleichheit wird in naher Zukunft nicht mehr die Rede sein.“
Büttner-Janner hat etwas von einem Großgrundbesitzer. Stolz umkreist er mit dem Finger auf der Karte seinen weiträumigen Besitz mit drei Landebahnen für landwirtschaftliche Flugzeuge. Er ist einflussreicher als der Bürgermeister, der hat dieses Jahr nur einen Etat von 130.000 Mark, „ein Kommandostand ohne Soldaten“. Er hat eine halbe Million zur Verfügung und legt davon Straßen an, baut Häuser, Ferienanlagen und richtet Gaststätten und Kultursäle ein. „Um vierzehn Dörfer musste ich mich kümmern, damit die Leute nicht alle weggingen.“ Er hat bereits Kontakte mit der Bundesrepublik und den Niederlanden. Der ehemalige Parteisekretär seiner LPG – der Wachhund der SED, der in jeder Organisation obligatorisch war – hat die Partei verlassen, er ist jetzt „Devisenbeschaffer“.
In Gedanken versunken betrachtet Karl Schulz das Auto der Holländerin. Da ist sie schon wieder, schnüffelt immer noch rum. Er hat ihr erzählt, dass in den fünfziger Jahren sechshundert Leute aus dem Dorf nach drüben abgehauen sind. Dumm von ihm, aber er hat noch hinzufügt, sie soll zweihundert schreiben. Wie sie auf das gerahmte Foto von ihm geschaut hat, das im Wohnzimmer auf dem Sekretär steht. Er als Soldat. Er sieht gut darauf aus. Sie hat ihn auch über die Kriegszeit ausgequetscht. Über die vielen Selbstmorde 1945, Quatsch! Nicht in Fürstenwerder. Er hat gesagt, dass er nicht weiß, was hier im Krieg los war. Er war ja nicht da. Nur über die Goldfasane hat er was erzählt, die hohen Nazi-Bonzen in ihren geschniegelten Uniformen. Nach dem Krieg liefen sie in einem neuen Jackett herum, als hätten sie nie was anderes getragen. Und nun hängen sie sich wieder ein anderes Mäntelchen um. Er war nie irgendwo Mitglied, nur in der Evangelischen Kirche und bei der Freiwilligen Feuerwehr.
Ende 1945, als wieder Ruhe eingekehrt war, schrieb der Pfarrer ins Kirchenbuch: „Alle während der letzten Kriegstage und in der Nachkriegszeit Verstorbenen wurden standesamtlich erfaßt.“ Eine lange Liste mit Namen, Daten, Todesursachen. Hermann Wels, Justizinspektor a.D., schlitzte sich am 24. April 1945 die Pulsadern auf. Am 27. April erhängte sich seine Frau Berta Wels. Am selben Tag starb die Apothekerin Margarete Geese an einer Schusswunde in der Brust. Einen Tag später erhängte sich der Bäcker Albert Sommer. Seine Frau Hedwig ging zusammen mit den Kindern Ursel, Inge und Wolf-Günter im nahen See ins Wasser. Wieder einen Tag später, am 29. April, ging die Familie Meinke ins Wasser, Vater Karl, Mutter Berta und die Kinder Erna, Ruth, Helga und Gerhard, vierundzwanzig, zwölf, sieben und vier Jahre alt … Insgesamt schnitten sich vier Leute die Pulsadern auf, fünf erhängten sich, dreizehn starben an Schusswunden, meist durch einen Kopfschuss, siebzehn gingen ins Wasser.
Angst vor den Russen trieb sie in den Tod. Die Berichte der Flüchtlinge aus den Ostgebieten waren schauerlich. Totschlag und Vergewaltigung. Als die Rote Armee in Fürstenwerder einrückte, traf sie keine lebende Seele mehr an. Die Bevölkerung war in Panik geflohen. Die meisten kehrten zurück, als „der Russe“ sie eingeholt hatte.
Der ehemalige Pfarrer Zellmer: „Der Nationalsozialismus fand in Fürstenwerder mehr Anklang als in den Nachbardörfern. Fürstenwerder war mehr eine kleine Stadt, mit Geschäften, Handwerksbetrieben, einem Arzt, und mit Gegensätzen zwischen Arm und Reich, Besitzenden und Besitzlosen. Das prallte so aufeinander. Die Landarbeiter waren kommunistisch oder sozialdemokratisch, sie wohnten in der jetzigen Karl-Marx-Straße. Ziegenort hieß das damals, weil sich die Armen eine Ziege hielten für ein bisschen Milch. Die besitzende Klasse war vorwiegend deutsch-national eingestellt, ein bisschen Thron und ein bisschen Altar, und Hitler fand seine Anhänger vor allem unter jungen Leuten, denen es von Hause aus gut ging. Die Nazis hofierten sie: ‚Ihr seid die Zukunft.’ Viele zogen mit fanatischer Begeisterung in den Krieg. Ich habe noch ehemalige Nazis beerdigt. Sie sagten: ‚Es sind viele schlimme Dinge passiert damals’, aber manche sagten dann auch: ‚Es war aber doch zackig, die Uniform, die Stiefel, das Hackenknallen.’“
In einer Chronik über Fürstenwerder endet die Geschichte 1925 – „Bau einer Molkerei“ – und geht 1945 weiter: „Mit der Befreiung vom Hitlerfaschismus durch die ruhmreiche Sowjetunion, am 28. April 1945, begann auch in Fürstenwerder die Epoche des friedlichen Wiederaufbaus.“ Zwanzig Jahre wurden aus der Geschichte getilgt. In der Gaststätte Zink sagt ein Mann: „Ich weiß alles über die Geschichte, alles vom Dreißigjährigen Krieg, aber ich weiß nichts über den Zweiten Weltkrieg. Ich weiß nicht mal, ob mein Vater ein Nazi war. Er ist tot. Meine Mutter ist siebzig, sie redet nicht gern über den Krieg. Ich trau mich nicht, sie zu fragen.“
Der 73-jährige Erich Zimmermann ist durch den holländischen Besuch zu überrascht, um Scham zu empfinden. „Holland“, sagt er wehmütig, eine Forke mit Stroh über der Schulter. „Ich war in Holland. 1941, Franeker. Bei der Flak. Ach, wie die holländischen Meisjes dauernd die Fenster putzten, so schön.“ Er will beweisen, dass er wirklich da war, er hat Fotos. In dem winzigen Wohnzimmer des Bodenreform-Häuschens, wo er mit seiner Schwester Johanna wohnt, legt er zwei Fotoalben auf den Tisch. Kriegserinnerungen steht in Goldprägung auf dem Umschlag, ein Lorbeerkranz, ein Hakenkreuz. Johanna kratzt mit dem Fingernagel darüber. „Ach, lass doch, Hannchen, das ist doch egal. Jedenfalls heute. Schauen Sie, das ist Franeker. Die Windmühlen, eine Drehorgel, der kleine Junge, der zuguckte. Wir hatten vier Geschütze auf dem Deich stehen, dicht bei einem hübschen kleinen Haus mit großen Fenstern. Holland ist so schön, auch so sauber, die Felder waren so ordentlich, und die Leute sind so nett. An die Zeit denke ich gern zurück. Wir waren dort nur ein paar Wochen zum Manöver. 1944 war ich noch eine Weile in Zwolle. Das war scheußlich, mir taten die Leute so leid. Wenn wir unsere Geschütze abfeuerten, zersprangen die Fensterscheiben in den Bauernhöfen ringsum. Ach, die armen Leute, ihre schönen großen Fenster waren kaputt, das fand ich so schlimm …“ Johanna, die Kind gebliebene Johanna – sie fiel mit fünf rücklings vom Heuwagen – bringt eine Landkarte, die mit Heftpflaster zusammengehalten wird. Das ist ihre Vergangenheit. Sie faltet sie mühsam auseinander. Die Flucht aus Ostpreußen ist darauf eingezeichnet. Vom 23. Januar bis 26. März 1945. Eine Spur von kleinen Kreuzen markiert die Ruheplätze. „Es war schrecklich“, sagt sie, „ich kann es nicht beschreiben. Ich sag einfach mal, es war wunderschön.“ Gehetzt flüchteten sie bis nach Oldenburg, an Bremen vorbei.
„Hier in der Uckermark konnten wir nach dem Krieg ein Stückchen Land bekommen“, erzählt Erich, „deshalb sind wir hierher gegangen. Ich habe meine Arbeit in aller Stille gemacht. Ich galt als Nationalsozialist, ich war ein überzeugter Anhänger von Adolf Hitler gewesen. In der Kriegsgefangenschaft konnten wir das mit den Juden noch nicht glauben. Ein Schuster, der im KZ gewesen war, hat mir alles erzählt. Dann erst habe ich es geglaubt. Ich war seelisch gebrochen, dass es so was gegeben hat.“
Johanna mit ihren großen, braunen Augen: „Heil Hitler, was ist das für ein Gruß! Grüß Gott, das klingt schön.“
„Wehe, man grüßte nicht mit dem Hitlergruß. Guten Tag konnte man nicht sagen. Wir waren richtig dressiert. Ich habe den Reflex noch im Arm.“
„Wir haben sie oft gesehn, was, Erich, in den dreißiger Jahren. Adolf Hitler hatte ein Landgut in unserer Heimat. Dann fuhren sie mit sechs, sieben Mercedes vorbei, Hitler, Göring, Himmler, Hindenburg.“
„Wir waren dumme Schulkinder. Wir haben gewinkt und gelacht.“
„Ob wir jemals wieder eine Heimat haben?“
„Das kommt, Hannchen, aber nicht in Ostpreußen, der Friedhof wird unsere Heimat sein. Die Oder-Neiße-Grenze muss bleiben. Die Polen bestellen unser Land gut, ich war 1977 und 1980 da.“
Als ich nach der Kollektivierung frage, dem Wegholen des Viehs, winkt Zimmermann ab, „ein Messerstich ins Herz“, er will nicht darüber reden. „Ich hatte ein schönes Leben. Ich habe auf einem großen Düngerstreuer gearbeitet. Ich war richtig stolz darauf. Für mich hätte das ganze Jahr aus Dünger streuen bestehen können.“
Johanna zupft an ihrer Schürze: „Was ich mir als alte Frau noch wünsche, sind schöne Hüfthalter mit soliden Strümpfen. Aber hier kriegt man nichts.“ Sie zeigt auf sich: „Ich bin nicht mehr als das, was ich trage, geerbt von den Toten.“
Melanie und Mandy prusten vor Lachen. Wie war das noch wieder? Jede Klasse hatte einen Ordnungsschüler. Wenn der Lehrer reinkam, standen alle Kinder auf, der Ordnungsschüler ging nach vorn, entbot eine Art militärischen Gruß mit gestreckter Hand über dem Kopf und sagte: „Herr Soundso, ich melde, die Klasse ist zum Unterricht bereit.“ Der Lehrer antwortete: „Für Frieden und Sozialismus – seid bereit.“’ Worauf alle Schüler die Hand über den Kopf hoben und riefen: „Immer bereit.“ Sie finden es jetzt schon so lächerlich, aber im Dezember 1989 fielen sie vor Überraschung fast von den Schulbänken, als ein Lehrer reinkam und einfach „Guten Morgen“ sagte. Sie haben dann ebenfalls nur mit „Guten Morgen“ gegrüßt. Die Pionier-Uniformen brauchen sie auch nicht mehr zu tragen. Mandy kichert und kaut dabei heftig auf ihrem Kaugummi. „Meine Mutter hat gefragt: ‚Musst du nicht dein Pioniertuch umbinden?’ Ich hab gesagt: ‚Nimm es ruhig als Spüllappen, ich brauch’s nicht mehr.’ Die Fahnen der Freien Deutschen Jugend und der DDR haben wir auch nicht mehr aufgezogen. Das haben wir immer bei besonderen Anlässen gemacht, und der Schulleiter hielt dann eine Rede.“
Klaus-Dieter Durdis schleicht wie ein Schatten durchs Dorf. Er hat zu hoch gepokert, zu spät hat er gemerkt, dass die alten, vertrauten Spielregeln nicht mehr gelten. Alle seine Handlungen werden erneut auf die Waagschale gelegt, und die Waage ist jetzt anders geeicht. Im Dorf brodelt es von Zorn, Klatschgeschichten und Rachegedanken. „Er hat die Wahlergebnisse gefälscht letztes Jahr im Mai, das Kommunistenschwein.“ „Er ist in die Wohnung der einzigen Familie aus dem Dorf gezogen, die in den Westen abgehauen ist, der Schmarotzer.“ „Der kleine Schwindler, es liegt an seiner Statur, deshalb will er groß sein.“ Sein Kopf soll rollen.
Der ehemalige Pfarrer Zellmer meint zu den Beschimpfungen und Wutausbrüchen: „Diese Zeit der Wende erinnert stark an 1945. Jeder sagt: ‚Ich habe keine Schuld’, aber alle haben sie mitgejubelt und ihre roten Fähnchen geschwenkt. Alles dreht sich um Arbeit, Geld verdienen und ein Mittelklasse-Auto. Wer etwas auf sich hält, fährt einen Wartburg oder Lada und hat – der absolute Traum – eine Datsche. Das beschäftigt einen ununterbrochen, das füllt den Horizont völlig aus. Die Leute hier sind ein bisschen aus der Zeit gefallen, sie leben nur in ihrer eigenen Welt. Keiner ist es gewohnt, Verantwortung zu tragen. Schimpfen, das können sie.“
Und das tun sie voller Überzeugung. Aber hin und wieder taucht eine beunruhigende Frage auf: Wer wird der neue Bürgermeister? Wer riskiert Kopf und Kragen, wer gibt seine Arbeitsstelle auf, wer springt ins kalte Wasser einer so ungewissen Zukunft, wer geht das Risiko ein, der nächste Sündenbock zu sein? Die Dorfbewohner schweigen. Von Gott und der Partei verlassen, ohne Richtlinien aus Berlin, sind sie hilflos. Vorher hat der Staat ihnen das Denken abgenommen, demnächst der Westen?
Gut hundertfünfzig Leute sitzen bei der nächsten Bürgerversammlung angespannt im Saal des Kulturhauses. Die Gemeindevertreter und die aus ihrer Mitte gewählten Ratsmitglieder sitzen auf dem Podium. Der Tanz kann losgehen. Den Vorsitz führt Stegemann, ein pensionierter Lehrer, der – ungewöhnlich für diesen Beruf – immer parteilos war.
Der Rat der Gemeinde will zurücktreten, aber Stegemann warnt vor Chaos. Er schlägt vor, nicht das Misstrauen auszusprechen, sondern nur Missbilligung zu äußern und den Bürgermeister und die Gemeinderatsmitglieder zu bitten, bis zu den Wahlen im Mai im Amt zu bleiben. „Zugegeben, die Briefschreiberei war eine merkwürdige Sache, aber ich frage Sie alle: Sind Sie frei von Fehlern?“
Durdis spricht, in Jeans und hellblauem Hemd, mit wiedergewonnener Energie. Niemand lacht, niemand spottet, der Saal hört zu. „Ich habe mich ein Dutzend Mal entschuldigt, ich habe Modrow geschrieben, dass ich die Briefe zurücknehme, mehr kann ich nicht tun. Wenn die Gemeindevertreter wollen, trete ich jetzt sofort zurück, aber denken Sie daran: das Amt zu übernehmen erfordert Courage. Jeder braucht sich nur selber mal anzugucken, um das zu wissen.“
Grahl steht auf, mit unübersehbarem Widerwillen. „Oh nein!“, seufzt der Saal. „Ich fasse mich heute sehr kurz“, sagt Grahl. „Ich lege mein Amt nieder.“
Stegemann fordert die Gemeindevertreter auf, das Wort zu ergreifen, pro forma geben ein paar ihren Senf dazu. Dann stimmt die Gemeindevertretung bis auf vier Mitglieder für den Vorschlag von Stegemann. Pfarrer Hemmerling, in schwarzer Lederjacke mit Fransen und Stickereien, unternimmt noch einen Versuch, umzusteuern: „Jemand, der beim letzten Mal die Ergebnisse gefälscht hat, kann jetzt nicht die Wahlen organisieren. Die Entschuldigungen des Bürgermeisters akzeptiere ich, aber Entschuldigen reicht nicht aus. Ich finde, es müssen auch Konsequenzen gezogen werden.“
Und der Tierarzt, der gerade einen SPD-Ortsverein gegründet hat, setzt hinzu: „Dass die Gemeindevertretung mal eben abstimmt, so einfach geht das nicht mehr. Das Volk hat dem Bürgermeister das Vertrauen entzogen, dieses Schauspiel hat mit Demokratie nichts zu tun.“
Sie bekommen lauten Applaus, Hände gehen im Saal nach oben. Jetzt fängt es an! Stegemann sagt: „Prima Bemerkungen. Wer will, kann einen Runden Tisch einberufen, ich schließe die Versammlung.“ Einen Moment wogt Bestürzung durch den Saal, dann ziehen alle resigniert ab.
Im Gasthaus Zink fasst ein zufriedener Stegemann kurz darauf das Treffen zusammen: „Schön kurz und schmerzlos.“
Werner Toews lehnt mit seinem großen Körper aus dem kleinen Fenster seiner Werkstatt und schreit Stegemann an, der draußen steht: „Weißt du, was du bist? Ein Klempner! Du hast gestern alles zusammengeklempnert. Und du willst ein Intellektueller sein!“ Er schlägt das Fenster zu und sagt:
„Der Pfarrer ist auch ein Schlappschwanz, der denkt nicht im Traum daran, wirklich was zu tun. Der Kleine war wieder völlig obenauf. Reden kann er wie ein Buch, er ist nicht dumm. Die Versammlung hat er mit Stegemann gut ausgekungelt.“
Es ist wieder voll in der Werkstatt der Brüder Toews. „Die Leute fühlen sich verscheißert, aber tief im Innern sind sie auch froh, dass dieser Durdis noch im Amt bleibt. Es ist doch tieftraurig, dass wir keine Kandidaten haben, keiner will Verantwortung übernehmen. Die Leute hier, die sind immer noch nicht aufgewacht. Sie träumen vom großen Geld – aber ein Deutscher verkauft seine eigene Mutter für einen Zigarettenstummel –, sie machen Ausflüge in den Westen und wissen nicht, dass wir eigentlich was Besseres zu tun haben.“
Er selbst ist momentan keinen Abend mehr zu Hause. Er macht in einer Umweltgruppe mit, Umwelt Aktiv. „Das kostet mich eine Menge Zeit. Die Genossen haben die Gruppe noch gegründet, die Bonzen von den LPGs sind auch dabei, das ist die Scheiße, aber es geht nicht anders. Wir können selbst nichts auf die Beine stellen, wir finden nicht genug Leute. Früher hatte jeder Versammlungen während der Arbeitszeit. Wer opfert einen halben freien Tag für eine Versammlung? Umweltbewusstsein existiert hier noch nicht. Büttner-Janner muss mit seinen Landwirtschaftsflugzeugen einen halben Kilometer von den Seen wegbleiben. Aber gestern sind sie wieder mit ihrem Dreckszeug einfach drüber weg geflogen. Es gibt zwanzig Hektar, auf denen die LPG Gülle ausbringt, bei dem hügeligen Land hier läuft das so in die Seen. Und dann auch noch viel Abwasser aus dem Dorf. Der Grenzwert für Ammoniak beträgt 0,01 Milligramm pro Liter, wir liegen zehnmal so hoch. Die Forellenzucht, auch so etwas. Das Kraftfutter verursacht fünfzehn Tonnen Schlamm pro Jahr, sechs LKWs voll. Und wohin gehen die Forellen? In die BRD natürlich. Wir vom Anglerverband schaffen unsere Motorboote ab. Unser Anteil an der Verschmutzung ist nicht so groß, aber wir wollen ein Zeichen setzen. Die Seen sind fast tot. Kinder, die im Wasser spielen, kriegen Hautausschlag von den Blaualgen. Die Leute haben noch nicht begriffen, dass die Seen, die Landschaft, unsere Zukunft sind.“
In der Nähe der LPG-Tierproduktion riecht es penetrant nach Schweinen. Eine alte Frau putzt den Büroflur. Drinnen sitzen die Buchhalterinnen bei Kaffee und Kuchen. Sie wissen, dass ihre Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. In Büros arbeiten viel zu viele Angestellte, meist Frauen. „Es ist ein Wahnsinn, wie viel hier an Statistik gemacht wird.“
In Grahls Zimmer hängt eine Zeichnung von Lenin an der Wand. Er lässt Kaffee bringen, schlägt einen vertraulichen Ton an und redet, redet, redet. Er arbeitet jetzt ein gutes Jahr für die LPG. Natürlich ist der Betrieb nicht der modernste, wirtschaftlich hat die Genossenschaft noch keine Bedeutung, aber sie muss nach dem Vorbild der BRD umgestaltet werden. Die Ställe sind alt, Arbeitskräfte rar.
Im Dorf heißt es, dass bei der LPG-Tierproduktion nur „Asis“ – Asoziale – arbeiten, aus Berlin und den Städten im Süden, Wandervögel und Alkoholiker, die eine Weile bleiben und dann weiterziehen. Die Arbeit in den Ställen muss ein mieser Job sein, um drei Uhr nachts anfangen, ein bis zwei freie Tage im Monat. Wer in den Ställen arbeitet, muss doch bescheuert sein. Grahl bestätigt das: „Viele denken: Wenn man nichts gelernt hat, kann man immer noch Stallarbeiter werden. Es ist Knochenarbeit, und ansonsten: schlafen, essen, trinken, Liebe. Ich habe junge Melker, die schon Rückenprobleme haben. Wir müssen intensivieren.“
Er führt mich herum wie eine Delegation, überschüttet mich mit Einzelheiten und guten Vorsätzen. Die Frage, ob er noch Parteimitglied ist, lässt ihn hochschrecken. „Woher wissen Sie das?“ Er stellt sich einen Tick zu dicht neben mich und bringt das Gespräch schnell wieder auf die Zauberformeln Technik, Intensivierung, Kontakte mit der BRD. Vor der Werkstatt stellt er mich unbeholfen den Schlossern vor. Er redet mit ihnen in etwas zu kumpelhaftem Ton. Einen von ihnen kenne ich schon vom zweiwöchentlichen Disco-Abend im Kulturhaus. Uli Stolzenburg. Damals nörgelte er: „Es ist eine Zumutung, an Ersatzteile zu kommen. Die Traktoren kommen aus Rumänien, das ist Schrott, so primitiv, und dann werden sie auch noch ohne Ersatzteile geliefert. Nach einem gewöhnlichen Lager muss man manchmal in der ganzen DDR suchen. In letzter Zeit sagen wir uns gegenseitig: ‚Schufte dich nicht so ab, wenn die aus dem Westen kommen, machen sie hier sowieso alles platt.’“ Als der Name Grahl fiel, schimpfte er los: „Das Schwein, den ‚Märchenprinz’ nennen wir ihn auch. Der mit seinen Geschichten. Zweimal die Woche Leitungsversammlung, davon kriegen wir keine Ersatzteile, das hält die Leute nur von der Arbeit ab, getan wird nichts. Grahl ist noch einer von den alten Hasen, der hat für die Stasi gearbeitet.“ Jetzt weicht Uli Stolzenburg meinem Blick aus.
Mit Grahl gehe ich zurück ins Büro, wir reden über die Dorfpolitik.
Warum wurde in diesen Briefen an Modrow für die sofortige Wiedereinführung eines Staatssicherheitsdienstes plädiert?
„Die Staatssicherheit ist mir schnuppe. Aber vergessen Sie nicht, dass in Pasewalk, hier ganz in der Nähe, einer wohnt, der der Schönhuber der DDR werden soll.“
Das Gerücht, dass Grahl Beziehungen zur Stasi hatte, geht noch immer um. Er sagt: „Bei einer Vollversammlung der LPG letzte Woche bin ich direkt danach gefragt worden. Auch da habe ich gesagt, dass ich privat keine Beziehungen zur Stasi hatte.“
Aber als Betriebsleiter, das war normal in der DDR. Warum eigentlich?
„Betrieblich unterhielt ich Kontakte, ja. Es geht mir darum, dass meine LPG gegen Angriffe geschützt wird.“
Angriffe? Welcher Art?
Grahl sucht vergebens nach einer Antwort. Er muss einräumen, dass es immer sehr ruhig geblieben ist in Fürstenwerder.„Ach, wozu brauche ich eine Staatssicherheit. Mir geht es um die Rechte unserer Leute. Die müssen sichergestellt sein.“
Wieder erschrickt er wegen einer Frage zur Partei: Warum ist er Mitglied geblieben?
Er gewinnt schnell seine Fassung wieder und sagt: „Noch immer geht es um Frieden, Umwelt, noch immer streben wir danach, dass die Resultate der Arbeit denen zugutekommen, die die Arbeit geleistet haben. Auch unter dem alten System haben wir uns um Veränderungen bemüht. In den letzten vierzig Jahren ist doch einiges passiert. Auch wenn ich nie gedacht hätte, dass die Wirtschaftslage so schlecht wäre. Das Verteilungsprinzip in der DDR war nicht so falsch, aber das, was verteilt werden sollte, war nicht vorhanden. Die letzten zehn Jahre ist was schiefgelaufen, das stimmt. Machtmissbrauch, Korruption, das haben wir doch nie gewollt. Vielleicht haben sich zehntausend Funktionäre so was zuschulden kommen lassen, das belastet mich sehr. Ich hab mich immer sehr stark fürs Dorf eingesetzt, bei der Arbeit und in der Freizeit. Meine Frau auch. Ich weiß, dass viele Leute gegen mich sind, für mich ist der Zug abgefahren.“ Seine Stimme hat einen anderen Klang bekommen, wird unsicherer. Grahl weint. Ich blicke zu Boden. Mit erstickter Stimme versucht er weiterzureden: „Da ist so ein Hass auf die Partei. Habe ich dafür die ganzen Jahre gearbeitet, um zum Lynchobjekt zu werden?“ Nervös suchen seine großen Hände nach einem Taschentuch, noch immer bekommt er seine Stimme nicht unter Kontrolle: „Es gibt nur noch so wenig Leute im Dorf, mit denen man reden kann, das bedrückt mich so. Bitte entschuldigen Sie.“ Er macht eine unbeholfene Geste.
Klaus-Dieter Durdis läuft mit forschen Schritten durch die Ernst-Thälmann-Straße. Weit ausholend winkt er mir zu. Ein Stück weiter, bei der Gartenpforte neben dem Konsum und der volkseigenen Apotheke, steht Karl Schulz.
Er mag die alten Bilder in seinem Kopf. Die Eisenbahn. Als er vier war, ist mal eine Lokomotive mit Bestimmung Schotterwerk in ihren Garten gefahren, durch falsche Weichenstellung. Die Russen haben nach dem Krieg die Schienen mitgenommen. Nur die Strecke nach Prenzlau wurde wieder instand gesetzt, 1948. Fünfzehn Jahre später fuhr schon wieder der letzte Zug. Die Gleise sind überwuchert, die Eisenbahnbrücken wurden gesprengt.
Vor dem Krieg wohnten achtundzwanzig Familien mit dem Namen Schulz im Dorf. Sie waren nicht miteinander verwandt, das muss er immer dazusagen, denn seine Frau ist auch eine geborene Schulz. Sie hatten alle einen Spitznamen, anders ging es nicht. So wie er, Karl Schulz, hießen schon fünf. Schmook-Schulz wurde er genannt. Er hängt an dem Namen, immer weniger Leute nennen ihn so. Es ist nur noch wenig übrig von früher. Er blickt über sein Grundstück. Das ist doch gut in Schuss mit den Klinkern. Er hat kürzlich die Scheunen neu decken lassen. Alle haben ihn für verrückt erklärt. Sollen sie doch. Sie werden schon noch dahinterkommen, wie verrückt der alte Schmook-Schulz ist. Geschäfte machen liegt ihm im Blut. Wer weiß, vielleicht verkauft er alles noch für einen Batzen Westgeld. Er hat keine Angst vor der Zukunft. Er hat vier Staatssysteme überlebt, Kaiser Wilhelm, die Weimarer Republik, die Nationalsozialisten und die Sozialisten. Schlechter als jetzt kann es nicht werden. Wahrscheinlich wird es wieder mehr so wie früher. Sollen die Touristen aus dem Westen doch kommen, die Strohmatratzen liegen auf dem Dachboden bereit. Aber ihm macht keiner was vor. Die im Westen sitzen schon auf ihren Geldkoffern bereit, um hier Geschäfte zu machen, und der kleine Mann wird wieder die Rechnung bezahlen. Leute, die zehn-, zwanzigtausend Mark Ersparnisse haben. Das ist Verrat am Volk, ob der Verrat nun aus dem Osten oder dem Westen kommt. Die Landwirtschaft, das wird ein großes Problem. Vom Grund und Boden hängt alles ab, wenn das vernachlässigt wird … Aber wenn es im gewohnten Trott vorangeht, ach, dann dösen sie hier in Fürstenwerder einfach weiter, wie in den vergangenen fünfundvierzig Jahren.
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, gefördert von Karl-Wilhelm Schulz und Henning Ihlenfeldt.
Der niederländische Originaltext erschien in Maandblad O, Nr. 6, Mai 1990